"Loser!...Ich verstehe nicht, warum sie tun, was sie tun"

Zum Mythos "Insurgency" im Irak

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Nun gilt auch dieser "Trend" nicht mehr: Nach den neuesten Zahlen sind in diesem Monat bereits 60 US-Soldaten durch feindliches Feuer getötet worden. Zwar stehen diesen Zahlen noch immer weitaus größere Verluste auf Seiten der irakischen Sicherheitskräfte gegenüber - 198 zählt der Iraq Coaltion Casualty Report - , aber die hohen Verluste der US-Truppen sind für amerikanische Reporter dennoch ein deutliches Indiz für das "Ende eines Trends", der auf der Annahme beruhte, die "Insurgents" hätten sich nach den Wahlen taktisch umorientiert, die amerikanischen Truppen aus dem Visier genommen und sich auf Anschläge gegen irakische Sicherheitskräfte konzentriert.

So ganz genau hat sich diese Annahme nie mit der Realität gedeckt. Erwähnt seien hier nur die beiden spektakulären Angriffe im April, bei denen größere Aufgebote an "Insurgents" US-Truppen in Abu Ghraib und "Camp Gannon" an der syrischen Grenze angriffen. Gleichwohl, die irakische Realität ist schwierig und Anschauungsmodelle sind nur begrenzt tauglich, gerade wenn sie auf Veränderungen schielen, die auch nur irgendwie als Erfolg oder Fortschritt in der amerikanischen Öffentlichkeit verbreitet werden können. Die "Insurgents" lesen mit; sie sind über Satelliten-TV und Internet auf der Höhe der Info-Dramaturgie.

Soviel zumindest scheint klar: Immer dann, wenn die US-Medien von Erfolgen im Kampf gegen die Feinde der Freiheit im Irak berichten, wird mit spektakulären und brutalen Aktionen das Gegenteil demonstriert. Und jedes Mal stellt sich die alte Frage neu: Wer sind denn eigentlich die "Insurgents", wie lange halten sie noch durch, was wollen die eigentlich?

"Loser" und brutale Nihilisten

Vor kurzem erschien in der New York-Times ein Artikel, der der Frage nachgeht, warum der irakische Widerstand, offensichtlich gleichermaßen unbekümmert von historischen Lektionen früherer Widerstandsbewegungen wie auch vom Kampf um "Hearts and Minds" der irakischen Bevölkerungsmehrheit, überhaupt Erfolg haben kann. Die Antworten der Experten zeigen vor allem eins: Ratlosigkeit und das Eingeständnis, dass man die Region, deren Kultur und Bewohner im Grunde nur wenig verstehe.

Man würde die US-Truppen immer wieder kritisieren, dass sie ihre Lektionen im Vietnam-Krieg und in der Auseinandersetzung mit anderen Widerstandsgruppen nicht gelernt hätten, konstatiert der Artikel, aber niemand sonst würde die historischen Lektionen derart "abschütteln" wie die Widerständler im Irak selbst. Offensichtlich wolle man weder die Herzen der Bevölkerungsmehrheit gewinnen, noch nach internationaler Legitimation streben, ein politisches Programm aufstellen oder gar eine einheitliche Ideologie; man habe keine charismatische Führungsfigur, keine alternative Regierung, nicht einmal einen politischen Flügel und bislang auch nicht die Absicht, Territorium für sich zu erobern, über das man Regierungsgewalt habe.

Wie widerspruchsfrei derartige Aussagen sind, sei an dieser Stelle dahingestellt, in der Summe entsprechen sie dem Bild vom irakischen Widerstand, wie es von den westlichen Medien vermittelt wird: eine diffuse, irrationale, anonyme und mörderische Bewegung, die nicht die Spur von "konstruktiven Ansätzen" zeigt. Dieses Bild wird auch von den amerikanischen Experten bestätigt, die der Artikel zitiert:

Statt zu sagen: "Wo ist hier die Logik, wir sehen sie nicht", könnten Sie spekulieren, dass es keine Logik gibt. Die Anschläge: mutwillige Gewalt… Und es gibt einen Namen für diese Kerle: Losers. Die Aufständischen machen alles falsch. Oder, wie auch immer, ich verstehe nicht, warum sie tun, was sie tun.

James Joes, Politik-Professor in Philadelphia

Es ist wirklich deutlich, dass es sogar in zwei Jahren nichts in der Art einer politischen Ideologie oder politischen Sprechers oder politischen Flügels gegeben hat. Es ist wirklich ein nihilistischer Widerstand.

Steven Metz, Army War College Strategic Studies.

Als einzigen kohärenten Zusammenhang erkennen die interviewten Experten nur das anti-amerikanische Motiv, doch auch diese Botschaft sei aufgeweicht worden durch Anschläge, die vielen Irakern das Leben gekostet hat. Und normalerweise falle doch ins Gewicht, was schon Che Guevera als unüberwindliches Hindernis bezeichnet habe: eine demokratisch gewählte Regierung. Einzig die IRA, die mehr als 30 Jahre lang Nord-Irland im Chaos gehalten hat, ist für den Autor des Artikels ein möglicher historischer Vorläufer. Hier zeigten sich ähnliche Zielvorgaben: Es gehe zunächst nicht darum, die Regierung zu stürzen oder die Amerikaner zu vertreiben, sondern sie "festzuheften" und bluten zu lassen. Insgesamt zeige sich aber, dass die Geschichte, was den aktuellen Irak-Konflikt angehe, keine Erkenntnis bereithalte. Niemand wisse, worauf die Aufständischen aus seien.

Sinnvoll ist es ganz klar für die Leute, die das tun. Und mehr als alles andere sagt uns das, wie wenig wir die Region verstehen.

"Für einen pluralistischen und demokratischen Irak"

Laith al-Saud, ein Dozent für Sozialwissenschaften und Mitglied des People's Struggle Movement, einer Organisation, die sich politisch gegen die Besatzung stellt, hat einen ganz anderen irakischen Widerstand vor Augen, wenn er Amerikanern und anderen Westlern den Irak erklärt: Die Art und Weise, wie in den US-Medien über den Widerstand berichtet wird, sei irreführend, eine Verfälschung, die der Besatzung in die Hände spiele. Man suggeriere der Öffentlichkeit, dass die amerikanischen Truppen für Sicherheit und Schutz des Landes unabdingbar seien, wobei man selbst die Unsicherheit und das Chaos durch die eigene Präsenz erst schaffe.

Das Pauschal-Label "Insurgency" habe mit der einseitigen Berichterstattung ein völlig irreführendes Bild des irakischen Widerstands in der Öffentlichkeit etabliert. Tatsächlich, so al-Saud, gebe es einen klar definierten politischen Rahmen der Besatzungsgegner, die politisch wie militärisch vorgehen würden, was sie auch immer wieder öffentlich machten, nur würden sich keine amerikanischen Journalisten für solche Ansprechpartner interessieren:

..die Methoden und Ziele des Widerstands ("resistance" im engl. Orginal, Anm. d. V.) sind immer öffentlich gemacht worden. Es hat keine größere irakische Widerstandsgruppe gegeben, die nicht das Ins-Ziel-nehmen von Unschuldigen im Land verurteilt hätte. … Die politischen Mitglieder des irakischen Widerstands standen den Medien als Sprecher für die bewaffneten Aktionen stets zur Verfügung; aber keine westliche Nachrichtenquelle hat sich darum bemüht, sie zu ihren Gefühlen oder Analysen zu befragen. Die Medien insistieren auf der offiziellen amerikanischen Version.

Als Beispiele für mögliche Ansprechpartner nennt al-Saud Vertreter der Association of Muslim Scholars und des People's Struggle Movement, dem er selbst angehört. Der politische Rahmen der irakischen "Resistance" sei an den Forderungen des Higher Committee for National Forces Rejecting the Occupation sehr genau abzulesen:

Für:

das Recht der Iraker auf Verteidigung gegen ausländische Aggression und Imperialismus
das Recht der Iraker auf einen politischen Prozess, der nicht von der Besatzung beeinflusst wird und der den unbeschränkten Willen der irakischen Bevölkerung reflektiert
epluralistischen und demokratischen Irak

Gegen:

die andauernde Besatzung des Landes und die Schaffung von ständigen Militärbasen

die Privatisierung der irakischen Wirtschaft und den unbeschränkten Zugang von ausländischen Firmen zu Iraks Ressourcen

eine föderale Verfassung des Irak

Der Föderalismus würde nach vorherrschender Ansicht der "Resistance" im Irak nur zu einem weiteren Auseinanderbrechen der Region in "halb disparate Gruppen" führen, die sich gegen ihren Nachbarn bewaffnen müssten, was in seiner Konsequenz wieder nach der Schutzmacht USA verlangen würde.

Der Mythos von der Dauergefahr "Insurgency" inklusive Bürgerkrieggefahr und den dazu gehörigen Stichworten würde vom echten Widerstand ablenken. So nehme man nur "Baathisten und Wahabiten" wahr, die mit allen Mitteln gegen Freiheit und Demokratie kämpfen, als gebe es keinen anderen Widerstand; dabei hätten die Akte der Zerstörung, die mit der "Insurgency" verbunden werden, keine Resonanz innerhalb der großen Gruppen der "Resistance" gefunden.

Zirkel der Gewalt

Eine beachtenswerte Untersuchung des Project on Defense Alternatives mit dem Titel: "The Dynamics of Occupation and Resistance in Iraq" stützt eine grundlegende Behauptung der Besatzungsgegner, wonach die militärischen Aktivitäten der Besatzer den Widerstand immer neu generieren. Die öffentliche Unzufriedenheit sei das "Wasser, in dem die Aufständischen schwimmen". Umfragen hätten ergeben, dass die große Mehrheit der Iraker nur geringes Vertrauen in die Koalitionstruppen hätte und diese nach wie vor als Besatzer, nicht als Befreier wahrnehmen würde, weshalb es eine "signifikante Unterstützung" innerhalb der irakischen Bevölkerung für Anschläge und Angriffe auf ausländische Truppen gäbe.

Zehn Prozent der Iraker haben "sehr negative Begegnungen" mit Koalitionstruppen. Am meisten ins Gewicht fallen hier traumatische Erlebnisse bei Hausdurchsuchungen:

Arresting authorities entered houses usually after dark, breaking down doors, waking up residents roughly, yelling orders, forcing family members into one room under military guard while searching the rest of the house and further breaking doors, cabinets, and other property. They arrested suspects, tying their hands in the back with flexicuffs, hooding them, and taking them away. Sometimes they arrested all adult males in the house, including elderly, handicapped, or sick people. Treatment often included pushing people around, insulting, taking aim with rifles, punching and kicking, and striking with rifles. Individuals were often led away in whatever they happened to be wearing at the time of arrest - sometimes pyjamas or underwear... In many cases personal belongings were seized during the arrest with no receipt given.... In almost all incidents documented by the ICRC, arresting authorities provided no information about who they were, where their base was located, nor did they explain the cause of arrest. Similarly, they rarely informed the arrestee or his family where he was being taken or for how long, resulting in the defacto disappearance of the arrestee for weeks or even months until contact was finally made.

58% der Bevölkerung gab an, dass sich die Koalitionsgruppen schlecht verhalten ("behave badly") würden. Die US-Truppen würden sich in einem Dilemma befinden, folgert der Bericht, ihre Mission würde Zwang und intrusive Maßnahmen beinhalten, was die Opposition nur noch weiter anheize. Als Gesamtergebnis sei festzuhalten:

Es gibt eine Korrelation zwischen den Gewalterfahrungen der Iraker, negativen Einschätzungen der US-Truppen und der Unterstützung für Anschläge und Angriffe der Aufständischen. Das geographische Muster von militärischen Aktivitäten der Koalitionstruppen korrespondiert mit der Verteilung dieser Haltungen, mit Spitzenwerten in sunnitischen Gebieten und Bagdad. Ungefähr 80 % der US-Militäraktionen während der Besatzung konzentrierte sich auf Bagdad und sunnitische Gebiete.