"Beihilfe zum Missbrauch sozialer Leistungen"?

Rainer Roth, Mitherausgeber des Leitfadens Alg II/Sozialhilfe zu den Vorwürfen aus dem Wirtschaftsministerium

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Das Bundeswirtschaftsministerium hat in dem kürzlich veröffentlichten Missbrauchsreport den Leitfaden Alg II/Sozialhilfe von A bus Z heftig angegriffen und sieht darin „Beihilfe zum Missbrauch sozialer Leistungen". Die beiden Verfasser des Leitfadens Harald Thomé und Professor Rainer Roth haben sich gegen diese Behauptungen mit einer Stellungnahme zur Wehr gesetzt.

In einem Interview mit Telepolis geht Rainer Roth, der an seiner Fachhochschule die AG TuWas leitet (hier kann der Leitfaden auch bestellt werden), genauer auf die Vorwürfe des Bundeswirtschaftsministeriums ein.

Minister Clement wirft Ihnen als Mitverfasser des Leitfadens AlgII/Sozialhilfe von A-Z Beihilfe zum Betrug vor. Was sagen Sie dazu?

Rainer Roth: Wir haben in einer Stellungnahme detailliert nachgewiesen, dass die vorgelegten Belege das nicht hergeben. Diese Behauptung ist eine Verleumdung. Wir haben Herrn Clement aufgefordert, die Verleumdung zurückzunehmen und die Verbreitung des "Missbrauchsreports" einzustellen.

Stellen Sie mit Ihren Ausführungen zur eheähnlichen Gemeinschaft den Geist der neuen Grundsicherung auf den Kopf, wie das Ministerium Ihnen vorwirft?

Rainer Roth: Urteile des Bundesverfassungsgerichts haben laut Grundgesetz Gesetzescharakter. Das BVerfG hat geurteilt: "Ohne rechtlichen Hinderungsgrund kann der mit dem Arbeitslosen nicht verheiratete Partner ... jederzeit ... sein Einkommen ausschließlich zur Befriedigung eigener Bedürfnisse oder zur Erfüllung eigener Verpflichtungen einsetzen. Wenn sich ein Partner entsprechend verhält, besteht eine eheähnliche Gemeinschaft nicht oder jedenfalls nicht mehr." (BVerfG vom 17.11.1992) Wir verteidigen dieses Urteil. Dem Ministerium und den Alg II-Behörden passt es nicht. Wenn das der Geist der neuen Grundsicherung sein soll, dann müssten die Verfassungsrichter der Beihilfe zum Betrug angeklagt werden, nicht wir.

Sie sollen im Leitfaden auch Schwarzarbeit entschuldigen?

Rainer Roth: Alg II reicht kaum bis zum Monatsende. Die Anrechnung von Arbeitseinkommen ist kleinlich. Wir haben erklärt, das würde die Schwarzarbeit "begünstigen". Clement fälscht das in "entschuldigen" um. Eine Erklärung ist keine Entschuldigung. Das SGB II fördert Schwarzarbeit, nicht wir. Wir sind nicht zuletzt deshalb für eine Erhöhung des Regelsatzes auf 500 EUR, damit Unternehmen es schwerer haben, Menschen zu finden, die zu Schwarzarbeit bereit sind.

Sehen Sie die Behörden, die Alg II auszahlen, als "natürliche Gegner" an, wie Clement Ihnen ankreidet?

Rainer Roth:Als natürliche Gegner sehen wir Behörden an, die das SGB II brechen. Die Behörden klären z.B. trotz gesetzlicher Verpflichtung (_ 13 SGB I) die Bevölkerung nicht ausreichend über das SGB II auf. Sie handeln häufiger als früher jenseits der Legalität. Gerade deshalb ist ja der Leitfaden laut Spiegel zum "Standardwerk" geworden. Uns anzugreifen erleichtert also Rechtsbrüche durch Behörden.

Laut Spiegel erhält Ihr Leitfaden alle "Informationen, die für den höchstmöglichen Bezug staatlicher Leistungen vonnöten sind". Sehen Sie hier den Grund für die Angriffe?

Rainer Roth: Genau. Die Inanspruchnahme von Rechten wird durch Regierung und Medienkonzerne in die Nähe des Missbrauchs gerückt, weil sie Geld kostet. Diejenigen, die das Gesetz verabschiedet haben, beschweren sich, wenn es in Anspruch genommen wird. Das Interesse, Geld zu sparen, um Gewinnsteuersenkungen auszugleichen, steht anscheinend über dem Gesetz. Die Parteien der großen Koalition nutzen die verleumderische Propaganda gegen Arbeitslose und uns, um neue Kürzungen vorzubereiten.