Denkanstöße vom "skandivanischen Modell"

Seit Jahren läuft die Debatte um die Zukunft des Sozialstaates, bislang ohne Ergebnis

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Stärker noch als in den vergangenen sieben Jahren unter SPD und Grünen wird unter einer großen Koalition der Umbau des Sozialstaates auf der Agenda stehen. Dieses Ziel wurde von beiden Koalitionspartnern schließlich schon im Wahlkampf erklärt. Doch wohin soll die Reise gehen? Seit Beginn der neunziger Jahre hat ein „Sparpaket“ das nächste abgelöst. Eine langfristige Perspektive wird dem deutschen Sozialsystem aber noch immer nicht bescheinigt.

Dabei mehren sich die Stimmen derer, die einen grundsätzlichen Umbau des Sozialmodells fordern. In mehreren privaten und staatlichen Vergleichsstudien hat sich das skandinavische Modell auf europäischer Ebene schließlich als erfolgreichstes behauptet (Sehnsucht nach Norden). Doch worin unterscheidet sich der nordische Ansatz von der Sozialpolitik in den Kernstaaten der Europäischen Union und in Großbritannien? Telepolis sprach mit Daniel Dettling, Sachbuchautor und Sozialexperte bei dem deutschen Think Tank Berlinpolis.

Der deutsche Sozialstaat verzichtet auf das Potenzial und die Solidarität der Selbstständigen, der Beamten und Rentner

Vergleicht man die verschiedenen europäischen Sozialsysteme, schneidet das skandinavische Modell recht gut ab. Weshalb wird es also nicht flächendeckend in der Europäischen Union übernommen?

Daniel Dettling: Es gibt einen finanziellen und einen kulturellen Grund. Finanziell wäre ein Umsteigen auf ein rein oder überwiegend steuerfinanziertes Sozialmodell mit hohen Kosten verbunden, vor allem mit Übergangskosten. Kulturell sind nicht alle Gesellschaften in Europa bereit, hohe Steuersätze für soziale Belange aufzuwenden. Die Spitzensteuersätze liegen in den nordischen Ländern zum Teil weit über 50 Prozent.

Die soziale Absicherung gänzlich durch Steuern zu finanzieren – ist das gerecht?

Daniel Dettling: Was ist gerecht? Wichtig ist das Gefühl einer breiten Mehrheit, dass es in einer Gesellschaft gerecht, also fair zugeht. Die vier zentralen Anforderungen an den Sozialstaat sind die Vermeidung von elementarer Armut, der Zugang zu Bildung und Arbeit sowie die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und eine kinderfreundliche Politik. Das sind allesamt Aufgaben, die alle Bürger eines Gemeinwesens betreffen und nicht nur die sozialversicherungsbeschäftigten Arbeitnehmer.

Und in Deutschland?

Daniel Dettling: Hierzulande verzichtet der Sozialstaat weitgehend auf das Potenzial und die Solidarität der Selbstständigen, der Beamten und Rentner. Das ist das Gegenteil von sozialer Gerechtigkeit.

Das alles betrifft zunächst aber nicht die Sozialpartnerschaft. Wie ist die Beteiligung des Unternehmerlagers in den skandinavischen Staaten geregelt?

Daniel Dettling: Die Gewerkschaften sind dort stärker organisiert. Insgesamt besteht ein verlässliches Vertrauensverhältnis zwischen Gewerkschaften, Politik und Unternehmern. Ein interessantes Beispiel ist das dänische Modell für Ausbildungsförderung. In Dänemark gibt es einen Fonds, aus dem nicht nur zusätzliche Ausbildungsplätze in der Krise bezahlt werden; alle Betriebe, die ausbilden, bekommen eine Erstattung durch den Fonds für die Berufsschultage, also für eben die Tage, an denen der Jugendliche nicht im Betrieb ist und auch nicht produktiv tätig ist. Wenn Ausbildungsplätze fehlen, dann springt der Fonds in die Bresche und finanziert zusätzliche Ausbildungsplätze. Er übernimmt darüber hinaus zusätzliche gesamtwirtschaftliche Aufgaben, zum Beispiel die Finanzierung von Auslandsaufenthalten von Auszubildenden, was in dem zusammenwachsenden Europa immer wichtiger wird.

In einer vergleichenden Studie aus Ihrem Haus hat sich aber auch das angelsächsische Modell verbessert. Mit minimalen Sozialleistungen und einer wachsenden sozialen Kluft steht dieser Entwurf dem skandinavischen aber diametral entgegen. Wie ist die Verbesserung dann zu erklären?

Daniel Dettling: Die britische Regierung unter Tony Blair hat massiv in Bildung und Gesundheit investiert, beides elementare Bedingungen einer dynamischen Arbeitsmarktpolitik. Vor allem die Initiative „early excellence“, die Politik einer möglichst frühzeitigen Förderung von Kindern aus sozial schwachen Familien, hat europaweit Beachtung gefunden. Insgesamt ist in England die Integration von Ausländern wesentlich besser auf dem Arbeitsmarkt organisiert, eben, weil er ein offener und weitgehend entregulierter Markt ist.

Wenn der Erfolg in Großbritannien auf mehr Beschäftigung fußt, ohne die Art der Arbeitsverhältnisse und die soziale Absicherung zu beachten – kann dieser Erfolg dann nachhaltig sein?

Daniel Dettling: Der Erfolg ist natürlich wachstumsabhängig. Zunehmende Aufmerksamkeit erfährt in Großbritannien aber das Thema des lebenslangen Lernens und eine ordentliche Gesundheitsversorgung. An diesen beiden Themen wird sich die Nachhaltigkeit des britischen Modells entscheiden.

Die nordischen Länder gehören weltweit zu den wettbewerbsfähigsten

Hierzulande existiert das so genannte kontinentale Modell, dessen Ursprung noch auf die Bismarckschen Ideen zurückreicht. Weil dieses System durch Beiträge der arbeitenden Bevölkerung finanziert wird, rutscht es immer tiefer in die Krise; sowohl durch die demographische Entwicklung als auch durch steigende Arbeitslosigkeit. Macht die Krise denn tatsächlich vor dem Norden halt?

Daniel Dettling: Ja, das nordische Modell ist demographieresistenter, weil es steuerfinanziert ist, und gleichzeitig beschäftigungsfreundlicher, weil soziale Dienstleistungen ebenfalls über Steuern finanziert sind und so eine hervorragende öffentliche Infrastruktur im Bereich der Bildung und Vereinbarkeit von Beruf und Familie besteht. Die nordischen Länder gehören seit Jahren zu den wettbewerbsfähigsten weltweit.

Nun schneiden die skandinavischen Länder aber nicht nur bei der sozialen Absicherung gut ab, sondern auch bei Familien- und Bildungspolitik. Wie bedingen sich diese Punkte?

Daniel Dettling: Ohne eine funktionierende Familien- und Bildungspolitik ist das nordische Modell nicht denkbar. Beide sind der Garant des Erfolgs. Die Erwerbstätigkeit von Mann und Frau ist hier nicht nur anerkannt, sondern auch Norm und wird von beiden Geschlechtern unterstützt. Erst die hohe Erwerbsbeteiligung der Frauen schützt diese vor Armut im Fall eines Kindes und verhindert so den Teufelskreis der sozialen Vererbung, unter dem Großbritannien und die USA, aber auch Deutschland, Frankreich, sowie andere EU-Länder leiden. Eine investive, auf gleiche Chancen orientierte Politik verhindert in den skandinavischen Ländern weitgehend Kinder- und Bildungsarmut. Entscheidend ist also nicht so sehr die Höhe der Ausgaben, sondern wie sie investiert werden.

In Deutschland werden Familienleistungen überwiegend direkt ausgezahlt, in den nordischen Länder dagegen investiert in eine entsprechende Betreuung und gute Qualität der Einrichtungen sowie hohe Leistungen bei vorübergehender Erwerbslosigkeit. Es gilt das Motto „Bildung für alle“: Ein ungegliedertes Schulsystem bis zur 9. bzw. 10. Klasse und beträchtliche Bildungsinvestitionen erhöhen den Bildungsstand in den niederen Bildungsstufen. So wird die Ausgrenzung vermindert, um gleichzeitig die gesamtwirtschaftliche Produktivität zu erhöhen – und damit auch die Steuereinnahmen, die erforderlich sind, um gesellschaftliche Wohlfahrt zu finanzieren.

Was müsste sich in Deutschland also ändern?

Daniel Dettling: Deutschland braucht eine stärkere investive Sozialpolitik, an der sich alle Gruppen beteiligen – nicht nur die Sozialversicherten. Im Kern gibt es um den Wandel vom Sozialversicherungsstaat in einen sozial investiven Staat. Voraussetzung hierfür ist ein Mentalitätswandel in den Köpfen: Der Sozialstaat ist nicht Folge einer starken Wirtschaft, mit deren Erträgen sich eine Gesellschaft soziale Aufgaben erst „leisten“ kann, sondern Bedingung einer erfolgreichen Wirtschaft. Ohne Kinder und Bildung kann es keine moderne Wirtschaft geben.

Es ist wie beim Auto: Die Bremse ist die Voraussetzung dafür, dass man auf der Straße schneller und dynamischer fährt. Niemand setzt sich in einen Porsche ohne Bremse. Die Bremse muss allerdings, damit sie funktioniert, auch gut geölt sein. Der deutsche Sozialstaat quietscht an allen Ecken und Enden, er braucht besseres Öl, also eine neu zusammengesetzte Finanzierung. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer könnte der Einstieg in ein neues Sozialmodell sein. Die Frage ist nur: Haben sich die Großkoalitionäre das auch so gedacht?