Das Dorf der Vogelfreien

Kolumbien: Eine ehemalige Bürgermeisterin über Präsident Uribes Politik der harten Hand

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Der Ausnahmezustand ist Normalfall in der „Stadt des Todes“, Apartadó, Kolumbien. In kleinen Städten wie dieser, in den Dörfern und Regionen an den Landesgrenzen tobt der Bürgerkrieg, von dem die Bewohner der großen Städte nichts mitbekommen. Kämpfe zwischen Militär, Guerilla, Paramilitärs und kriminellen Banden. Dazwischen Gewerkschafter, Bauern, Flüchtlinge.

Die UNESCO-Beraterin Gloria Cuartas, vergangene Woche auf Deutschlandbesuch, ist eine vehemente Kritikerin des Ende Mai mit großer Mehrheit wiedergewählten Staatspräsidenten Alvaro Uribe (vgl. "Unersetzbarer Retter"). Für sie ist er ein alter Bekannter: Als sie Bürgermeisterin von Apartadó war, war er Gouverneur der Provinz Antioquia. Schon damals verfolgte er die Politik der harten Hand.

1995, mit 35 Jahren wurde Gloria Cuartas Bürgermeisterin in Apartadó, der gewaltreichsten Stadt Kolumbiens. Es waren drei Jahre, in denen sie täglich mit dem Tod zu tun hatte.

Im Zentrum meiner Politik stand das Leben, das ich mit allen Kräften nach Apartadó zurückbringen wollte. Frieden ist nicht das Gegenteil von Konflikten. Eine Gesellschaft ist dann friedlich, wenn sie gelernt hat, Probleme intelligent zu lösen anstatt mit Waffen.

Eine ungewöhnliche Einstellung für Kolumbien. Während ihrer dreijährigen Amtszeit wurden 17 ihrer direkten Mitarbeiter getötet. Auf ihren Kopf wurde eine Prämie ausgesetzt. Als ihr Auto von einem Maschinengewehr durchlöchert wurde, stieg sie um auf einen Motorroller.

„Ich würde viel mehr leiden, wenn ich zuhause sterben müsste, ohne etwas getan zu haben.“ Gloria Cuartas hatte wenig mehr auf ihrer Seite als die moralische Macht. Sie folgte dem Gedanken der Verständigung und Öffnung. Im Rathaus legte sie ein Friedensbuch an mit dem Titel: „Respekt gegenüber dem Leben“, in dem Bürger eintragen konnten, was sie empfanden. Sie gewann Einwohner dazu, über Lösungen nachzudenken. Sie versammelte die Frauen und thematisierte die Gewalt innerhalb und außerhalb der Familien. Sie machte die Gewalt in Apartadó zu einem nationalem Thema. Es kommt zu Großdemonstrationen im In- und Ausland.

Fast 5000 Kinder der Stadt sind Kriegswaisen, viele leben auf der Straße. Die Bürgermeisterin richtete Jugendtreffpunkte und einen Kinderhörfunksender ein. Was wird aus Kindern, die mitansehen mussten, wie ihre Eltern enthauptet wurden? Eine Frage, mit der sie abends einschlief und morgens aufstand.

Nach drei Jahren war ihre Amtszeit vorbei. Eine Verlängerung ist per Gesetz nicht möglich. Das Rathaus wird „aus Sicherheitsgründen“ wieder geschlossen, die Bäume, die sie im Rathausgarten pflanzen ließ, wurden wieder abgesägt. Das Friedensbuch verschwand in der Schublade. War alles umsonst?

Eine Frage, auf die Gloria Cuartas keine endgültige Antwort hat.

Manchmal fürchte ich, nur das demokratische Feigenblatt einer Provinzregierung gewesen zu sein, zu einer Zeit, wo fast die gesamte Opposition umgebracht wurde.

Der damalige Gouverneur von Antioquia heißt Alvaro Uribe. Am 28. Mai wurde er erneut zum Staatspräsidenten von Kolumbien gewählt.

Die Politik, die Uribe dort in Antioquia begann, setzte er auf nationaler Ebene fort. Eine harte Hand gegen die Opposition, militärische Aufrüstung. Der so genannte Kampf gegen den Terror lenkt von dem größten Problem ab: der extremen Armut. Was Demobilisierung der Paramilitärs genannt wird, ist in Wirklichkeit eine Paramilitarisierung der Gesellschaft, ein Steigbügel, der ehemaligen Kämpfern das Gefängnis erspart und sie statt dessen in politische Positionen hievt.

Wenigstens eine Initiative aus ihrer Amtszeit aber hat Bestand: Das Friedensdorf San José de Apartadó. 1997 verpflichteten sich dessen Bewohner auf Rat des Bischofs zur Neutralität. Sie tragen keine Waffen und verweigern die Kooperation mit jeglichen bewaffneten Gruppen. Ihre Hoffnung war, sich so aus dem Schussfeld der Kämpfe heraushalten zu können. Zum Gründungstreffen im März 1997 kam auch Alvaro Uribe. Doch er reiste erbost ab, als sein Vorschlag, das Friedensdorf militärisch zu schützen, abgelehnt wurde.

„Diese Idee hätte dem Gedanken der Neutralität widersprochen und das Dorf wieder zur Zielscheibe für Kämpfe gemacht“, erklärt der Jesuitenpadre Javier Gildardo die Entscheidung des Dorfes. „Die Bewohner vertrauen dem Militär nicht.“

Während der Pater und die Bürgermeisterin sich vehement dafür engagieren, das Dorf international bekannt zu machen, um nötige Hilfe kämpfen und das Beispiel San José auch in andern Landesteilen Schule macht, versagt Uribe dem Dorf die Unterstützung bis heute. Immer wieder, zuletzt im Mai 2005, äußerte er den Verdacht, das Dorf kooperiere mit der Guerilla - eine Aussage, die Bewohner de facto zu Vogelfreien macht.

Trotz internationaler Beachtung durch Amnesty International, Peace Brigades International und anderen Gruppen wurden in den 9 Jahren seiner Existenz fast 160 der 1350 Einwohner des Dorfes brutal ermordet; Lebensmittelblockaden führten zu Mangelernährung und Krankheit. Bis heute wurde keine einzige Anklage gegen die Mörder erhoben.