Billig und willig

Ehrenamtliches Engagement wird hierzulande systematisch gefördert, denn kostenlose Arbeit ist unverzichtbar

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Freizeit war gestern. Heute ist Freiwilligenarbeit statt Faulenzen gefordert. Die Reformlawine hat längst auch die privatesten Bereiche erreicht. Natürlich haben sich immer schon Hunderttausende in Vereinen, gemeinnützigen Organisationen oder nachbarschaftlichen Initiativen engagiert. Doch angesichts der chronisch leeren öffentlichen Kassen wird die kostenlose Arbeit für immer mehr gesellschaftliche Bereiche unverzichtbar. Darum wird die „Aktivierung des bürgerschaftlichen Engagements“ seit vielen Jahren von Politik, Verbänden, Unternehmen und Kirchen systematisch gefördert. Ziel ist die „Bürgergesellschaft“: In Zukunft sollen die Menschen eigenverantwortlich z.B. die sozialen Probleme vor Ort selbst in die Hand nehmen. Das klingt gut, verschleiert aber, dass Wirtschaft, Kapitalbesitzer und Vermögende seit Jahren immer weniger zur Finanzierung der öffentlichen Kassen beitragen. Sie profitieren davon, dass andere kostenlos schuften.

Es gibt viel zu tun: Im Halle-Saale Kreis wird ein Arzt für die kostenlose Betreuung von Straßenkindern gesucht, in Kröllwitz wartet ein neuer Spielplatz auf unbezahlte Aufbauhelfer, in Berlin streichen Eltern in Eigenregie die Wände der Klassenzimmer.

In Deutschland sind derzeit 23 Millionen Menschen, rund 36% der Bevölkerung über 14 Jahre ehrenamtlich in Vereinen, Verbänden, Initiativen oder Kirchen tätig. Diese Zahl vermeldet der sogenannte Freiwilligensurvey 2004 des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Und die Tendenz zum ehrenamtlichen Einsatz steigt: Bei der letzten Untersuchung 1999 waren noch zwei Prozent weniger aktiv. Es spricht viel dafür, dass der Erfolg vor allem das Resultat der systematischen Aktivierung des bürgerschaftlichen Engagements ist. Dazu zählen Initiativen auf allen politischen Ebenen: von Bund, Ländern, Landkreisen, Städten und Kommunen.

Der Grundstein für die Reform des freiwilligen Einsatzes im Dienste der Gesellschaft stammt aus den 90er Jahren. Beispielsweise veröffentlichte 1995 der frühere CDU-Spitzenfunktionär und Publizist Warnfried Dettling in seinem Buch „Politik und Lebenswelt. Vom Wohlfahrtsstaat zur Wohlfahrtsgesellschaft“ sein Konzept einer „demokratischen Wohlfahrtsgesellschaft“. Darin heißt es:

Der Staat sieht seine Aufgaben in Bund, Ländern und Gemeinden nicht mehr primär darin, soziale Dienste und Leistungen zur Verfügung zu stellen, sondern die gesellschaftlichen Kräfte und Ressourcen zu mobilisieren. Aufgabe der Politik ist es nicht, die Gesellschaft zu bedienen, sondern sie zu aktivieren.

Zwei Jahre später legte der damalige Bundespräsident Roman Herzog mit seiner berühmten Ruck-Rede nach. Darin plädierte er für einen „neuen Gesellschaftsvertrag“, der Selbstständigkeit und Eigenverantwortung in den Mittelpunkt stellt.

Auch die rot-grüne Regierung nahm sich der Sache an und rief im Dezember 1999 die Enquete-Kommission Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements ins Leben. Sie hatte den Auftrag, „konkrete politische Strategien und Maßnahmen zur Förderung des freiwilligen, gemeinwohlorientierten, nicht auf materiellen Gewinn ausgerichteten bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland zu erarbeiten“. Als ein greifbares Ergebnis dieser Förderstrategie wurde das Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement gegründet, das bereits über 170 Mitgliedsorganisationen verzeichnet.

Mit dabei: die Bertelsmann Stiftung

Dort finden sich auch die üblichen Verdächtigen der neoliberalen Reformgemeinde. Beispielsweise die Bertelsmann Stiftung, die sich die Installierung der „Bürgergesellschaft“ auf die Fahnen geschrieben hat. 2002 lud sie „50 Entscheidungsträger aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Zivilgesellschaft“ zu ihrem Berliner Forum. Dort wurde erstmals die Idee der Kampagne „Du bist Deutschland“ (Kreativität mit Grenzen) vorgestellt. Die bislang größte Imagekampagne für den Standort Deutschland soll im Herbst ihre Fortsetzung finden. Bekanntlich wurde sie vom Vorstandsvorsitzenden der Bertelsmann AG, Gunther Thielen, initiiert. Im Grundsatzpapier des Berliner Forum war damals schon zu lesen:

Beispiele aus unseren europäischen Nachbarländern zeigen jedoch, wie erfolgreich Kampagnen und Initiativen auf nationaler Ebene oder auch Strukturreformen und neue gesetzliche Rahmenbedingungen dazu beitragen können, die Bürgergesellschaft auf die politische Tagesordnung zu bringen und weit reichende public-private Partnerships in allen Bereichen der Gesellschaft voranzutreiben. Die zweite inhaltliche Leitfrage der Konferenz lautet daher: Mit welchen Strategien, mit welchen Partnern und mit welchen Zielen können solche Kampagnen und Initiativen oder andere Reformschritte auch in Deutschland eingesetzt werden, um eine aktive Bürgergesellschaft zu schaffen?

Aus dem Grundsatzpapier der Bertelsmann Stiftung zum Berliner Forum 2002

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Mittlerweile sind in vielen deutschen Städten und Regionen Freiwilligenagenturen entstanden, insgesamt sind es bereits mehr als 180. Sie vermitteln die zahllosen Anfragen, vom Aufbau der Modelleisenbahn im Seniorenheim über die Betreuung von demenzkranken Menschen bis zur Erstellung der Homepage eines Vereins. Wo früher noch ausgebildetes Personal eingesetzt wurde, fehlt heute das Geld. Das treibt mitunter seltsame Blüten. Die Freiwilligenagentur Dortmund etwa sucht drei Menschen für die „Betreuung von Gästen bei Konzerten von Kinder- und Jugendchören im Mai und Dezember (Ausgabe von Ehrenkarten, Empfang VIPs, etc).“ Damit die VIPs und Ehrengäste standesgemäß begrüßt werden können, sind neben der kostenlosen Arbeitskraft auch „ein gepflegtes Erscheinungsbild und angenehme Umgangsformen Voraussetzung“.

Bürgergesellschaft: Folge der Umverteilung nach oben

Doch es gibt auch eine andere Erklärung für die derzeitige Aktivierungspropaganda: Der zunehmend entfesselte Kapitalismus schneidet tief in die Gesellschaften ein. Seit vielen Jahren ist eine kontinuierliche und gigantische Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums im Gang. Noch nie klaffte die Schere zwischen Arm und Reich so weit auseinander. Gleichzeitig entkoppelt sich die wirtschaftliche Ebene zunehmend von der gesellschaftlichen Basis. Das zeigt sich u.a. in der ununterbrochenen Forderung und Gewährung von Steuersenkungen und anderen „Entlastungen“. Konzerne und Unternehmen feiern Rekordgewinne, gleichzeitig werden Mitarbeiter entlassen. Armut und soziale Unsicherheit ergreifen immer weitere Teile der Gesellschaft, den öffentlichen Kassen brechen die Einnahmen weg. Vor diesem Hintergrund erscheint die ehrenamtliche Arbeit in der „Bürgergesellschaft“ als eine elegante und vor allem billige Lösung für die Wahrung des sozialen Friedens – wenn man die Profite nicht antasten möchte.

Die effektive Steuerlast von Kapitalgesellschaften lag beispielsweise im Jahr 2003 bei 11,4 Prozent, wenige Jahre zuvor war sie noch doppelt so hoch. Durch die Reform der Körperschaftssteuer der rot-grünen Regierung wurden zwischen 2001 und 2004 Konzerne in ungeheurem Ausmaß steuerlich entlastet. Die Summe wird auf bis zu 70 Milliarden Euro geschätzt. Das bedeutete auch einen dramatischer Einbruch der Gewerbesteuer, der die Kommunen weiter finanziell ausbluteten ließ. BMW hat beispielsweise 2002 einen Gewinn in Höhe von zwei Milliarden Euro gemacht, ohne einen Cent Gewerbesteuer an die Stadt München entrichten zu müssen. Und trotz der mittlerweile eingeführten „Reichensteuer“ bleiben Vermögende weiterhin durch das Steuerrecht privilegiert. Unternehmen sowie Wertpapier- bzw. Kapitalbesitzer tragen von Jahr zu Jahr weniger Steuerlast. Dabei ist das private Geldvermögen in der Bundesrepublik so hoch wie nie zuvor, laut Deutschem Institut für Altersvorsorge beläuft es sich auf 7.700 Milliarden Euro. Allein in den letzten fünf Jahren wuchs das durchschnittliche Vermögen der reichsten zehn Prozent der Bevölkerung um 29 Prozent.

Ein besonders absurdes Beispiel der Aktivierung ehrenamtlicher Arbeit war bei der WM zu beobachten. 15.000 „Volunteers“ sorgten für den reibungslosen Ablauf des Großereignisses. Organisationschef Franz Beckenbauer war ganz begeistert von ihrem Einsatzwillen:

Man muss sich das einmal vorstellen: Da stellen sich 15.000 Menschen aus allen Bevölkerungsschichten vier bis fünf Wochen zur Verfügung, und das Einzige, was sie kriegen, sind Klamotten und Essen. Und viele nehmen dafür sogar ihren Jahresurlaub.

An anderer Stelle fügte er noch hinzu:

Die vielen freiwilligen Helfer sind für uns ein ganz wichtiger Bestandteil. Ohne ihr ehrenamtliches Engagement wäre es überhaupt nicht möglich, die WM zu organisieren.

Der „Kaiser“ betreibt hier die weithin übliche Verschleierung der ökonomischen Realität. Natürlich wäre genug Geld für einen angemessenen Stundenlohn vorhanden: Die FIFA erzielte einen Rekordgewinn von geschätzten 1,6 Milliarden Euro.