Wildcat-Zirkular Nr. 6 - August 1994 - S. 13-19 [z06sozst.htm]


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Thesen zu Sozialstaat und Mindesteinkommen

  1. Der Sozialstaats ist nicht in die Krise geraten, weil er zu teuer geworden ist, sondern weil er seine Aufgabe, den allgemeinen Arbeitszwangs aufrechtzuerhalten, nicht mehr erfüllen kann.
  2. Der bisherige gesellschaftliche Konsens, der sich in dem System der Sozialversicherung ausdrückt, beruhte auf einer bestimmten historischen Klassensituation und einem dementsprechenden Arbeiterverhalten. Dieses ist seit den 70er Jahren dauerhaft in die Krise geraten.
  3. Die Vorschläge zu einem Mindesteinkommen/Bürgergeld sind Versuche, die Absicherung des Arbeitszwangs angesichts veränderter Klassenverhältnisse wieder zu festigen.
  4. Von einer revolutionären Perspektive aus kann es weder darum gehen, das alte System der Sozialversicherungen zu verteidigen, noch darum, sich an der Formulierung neuer staatlicher Sicherungskonzepte zu beteiligen.

Zu 1. In der öffentlichen Debatte wird unterstellt, die Kosten für den Sozialstaat seien an eine magische Grenze gestoßen, ab der er einfach »zu« teuer sei. Eine solche Grenze läßt sich aber überhaupt nicht bestimmen. Es könnte ein beliebig hoher Anteil des Bruttosozialprodukts als sozialstaatliche Leistung umverteilt werden, solange damit die allgemeine Profitabilität des Kapitals gesichert wird. »Zu« teuer ist der Sozialstaat in Bezug auf seine Funktion geworden: den Arbeitszwang abzusichern. Die Experten der sozialen Sicherung sprechen davon, daß der Sozialstaat nicht mehr gesellschaftlich integrativ wirke. Die Sozialleistungen versagen dabei, die ProletarierInnen in ein dauerhaftes Arbeitsleben einzubinden.

Die Behauptung, der Sozialstaat sichere den allgemeinen Arbeitszwang ab, erscheint auf den ersten Blick paradox. Gerade die sozialstaatlichen Leistungen werden doch im Unterschied zum nackten Lohn für Zeiten der Nicht-Arbeit gewährt. Aber alle diese Leistungen sind unmittelbar an die prinzipielle Bereitschaft zur Arbeit bzw. das faktische Arbeitsverhalten gekoppelt: Wer Sozialhilfe beziehen will, muß Arbeitsbereitschaft zeigen, kommunale Zwangsarbeit hinnehmen oder sich durch Kinderaufzucht für die Nation nützlich erweisen. Die Zahlung von Arbeitslosenunterstützung, Krankengeld oder Rente ist an die Höhe des früheren Arbeitseinkommens und die Dauer der stabilen Integration in ein Ausbeutungsverhältnis geknüpft. Diese Zahlungen setzen voraus, daß prinzipiell gearbeitet wird und nur in besonderen Situationen auf sogenannte »Lohnersatz«-Leistungen zurückgegriffen werden kann.

Auch historisch wurden sie nach und nach erst in dem Maße gewährt, wie die ProletarierInnen sich an diese historisch einmalige Form eines dauerhaften Arbeitslebens hatten gewöhnen lassen - wozu es einiger Kämpfe und der Befestigung von Vermittlungsorganen, die aus Teilen des Proletariats selber entstanden (Gewerkschaften, institutionelle Beteiligung der Arbeitervertreter), bedurfte. Historisch bleibt aber auch festzuhalten, daß der Sozialstaat keine Forderung der Klassenkämpfe des letzten Jahrhunderts war, sondern eine Antwort der Unternehmer und des Staates auf die explosive Klassendynamik. Das Entscheidenste bei dieser staatlichen Form der Absicherung war, daß sie einen gesellschaftlichen Konsens, d.h. eine allgemeine Vorstellung von Gerechtigkeit ihrer Leistungen erzeugen konnte - den Versicherungsfetisch als Fortsetzung des Lohnfetischs im sozialen Staat.

Zu 2. Dem angeblichen Begründer des Sozialstaats in Deutschland, Fürst Bismarck, schwebte ursprünglich etwas ganz anderes als eine Sozialversicherung vor. Er erhoffte sich politische Legitimation durch die unmittelbare Gewährung von Geldalmosen durch den Staat. Dies widersprach aber der im Lohnverhältnis enthaltenen Freiheit des Arbeiters - er tauscht seine Arbeit (so erscheint es ihm) für bestimmte Zeit gegen Geld, behält also seine Freiheit als individueller und unabhängiger Warenbesitzer.

[Die männliche Form ist hier als theoretische Zuspitzung durchaus angebracht: die sich im Sozialstaat herausbildende Form des Lohns und der Lohnersatzleistungen unterstellt nämlich als Ideal die Nicht-Lohnarbeit der Frau und ihren Verbleib als Reproduktionsarbeiterin im Haushalt. Sie blieb damit von dieser Seite der proletarischen Freiheit, der individuellen Unabhängigkeit als Waren- und Geldbesitzer ausgeschlossen und in einem persönlichen Zwangs- und Abhängigkeitsverhältnis eingeschlossen. Der Sozialstaat diente auch dazu eine stabile, wenn auch neuartige Geschlechterbeziehung zu fixieren, deren Aushöhlung durch die Verallgemeinerung der Lohnarbeit Staat und Unternehmer beunruhigte. Amerikanische Historikerinnen analysieren die ersten Formen betrieblicher Sozialpolitik in den USA als eine »klassenübergreifende Männer-Allianz«, mit der den Männern in den neuen Angelernten-Industrien ihr Status in der Familie zurückgegeben werden sollte, den sie im Zuge der Entwertung traditioneller handwerklicher Qualifikationen und des Verlustes der darauf beruhenden ökonomischen »Selbständigkeit« verloren hatten.]

Die Form der sozialstaatlichen Leistungen als Versicherungsleistungen vermittelt diesen Widerspruch: dem einzelnen Arbeiter erscheinen die Zahlungen (Rente, Arbeitslosengeld etc.) als Tauschleistung für die zuvor von ihm eingezahlten Beiträge. Er erhält kein Almosen, sondern Geld, für das er selber durch die frühere Einzahlung eines Teils seines Lohns aufgekommen ist. Er kann sich also weiter als freier Warenbesitzer fühlen. Die gesamte Konstruktion der Sozialversicherung und der unmittelbare staatliche Einfluß zeigen zwar, daß es sich nicht um eine normale marktwirtschaftliche Versicherung handelt, sondern um eine staatliche Regulierung der Klassenverhältnisse. Für den einzelnen verschwindet dies aber hinter der Illusion des Tauschverhältnisses, d.h. seinem individuellen, durch eigene Arbeit erworbenen, Rechtsanspruch auf diese Leistungen. [Nur so läßt sich auch verstehen, warum so vehement am Prinzip der Versicherung festgehalten wird, bzw. es sich in neuen Bereichen (Pflege) und neu-industrialisierten Ländern (in den asiatischen Schwellenländern werden gerade Sozialversicherungssysteme eingeführt) weiter durchsetzt.]

Der Sozialstaat entsteht zusammen mit der Durchsetzung des »living wages« - also eines Lohns, von dem der Arbeiter leben kann -, der zutreffender als Familienlohn zu bezeichnen wäre. Im Unterschied zur Frühzeit der Industrialisierung oder den heutigen Lohnverhältnissen in der Peripherie bedeutet der »living wage«, daß der Lohn des Mannes für die Reproduktion der gesamten, mittlerweile kleiner gewordenen, Familie ausreichen soll. Die bisherige Form des Sozialstaats setzt daher ein dauerhaftes Arbeitsleben und die Rolle der Frau als häusliche Reproduktionsarbeiterin voraus. Ansprüche werden in dem Maße erworben, in dem den größten Teil des Leben hindurch gearbeitet wird. Von Sozialpolitikern selbst wurde die Rente als »Treue- und Durchhalteprämie« charakterisiert. Für dieses »Durchhalten« bildet wiederum die Hausfrau ein wesentliche Voraussetzung (siehe die treffende Charakterisierung dieses Verhältnisses in der Schrift »Arbeit, Entropie, Apokalypse« von den Midnight Notes, in: Thekla 12, S. 36).

Das politische Funktionieren des Sozialstaats beruhte auf dem Arbeitsverhalten in den »taylorisierten« Massenindustrien. Die Arbeiter und Arbeiterinnen standen der Produktion und ihren Produkten zwar gleichgültig gegenüber, ließen sich über Lohnsteigerungen und soziale Absicherung aber zu einem produktiven Verhalten und zur dauerhaften Einbindung in den Fabrikalltag bewegen. Mit den »Fabrikrevolten« Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre ging diese Ära der Klassenbeziehung unwiderruflich zu Ende. Trotz gestiegener Kompensationen für das Elend der Arbeit sackte die Produktivität ab und verlor die industrielle Arbeit ihre »Attraktivität« als dauerhafte Existenzsicherung. Die ArbeiterInnen wechseln öfter ihren Arbeitsplatz, suchen selbstbestimmte Zeiten der Nicht-Arbeit und immer mehr Frauen kündigen ihre Stellung im Haushalt. Damit treten für das bisherige System der sozialen Sicherung zwei Probleme auf: 1. Viele Leistungen werden von den ProletarierInnen zu subventionierter Nicht-Arbeit umfunktioniert. 2. Dem wechselhafteren Arbeitsleben und der ansteigenden Frauenlohnarbeit gegenüber versagen die bisherigen Absicherungen. Da diese neuen Verhaltensweisen aber gesellschaftlich anerkannt werden, entsteht eine »Gerechtigkeitslücke«. In den Arbeitsmarkt neu einsteigenden Frauen oder ArbeiterInnen mit einem wechselhaften »Berufsleben« kann das System keine soziale Sicherheit mehr bieten.

Auf das erste Problem wurde zügig durch das Zusammenstreichen bestimmter Leistungen, bzw. das Heraufschrauben der Anspruchsberechtigung reagiert - ohne daß damit eine neue Arbeitsmotivation erzeugt werden konnte. Es zeigten sich aber sehr wohl Ansatzpunkte, den Aufstand gegen die Arbeit nach seiner gewaltsamen Niederschlagung in eine Bewegung für neue Formen der Arbeit umzulenken. Neben anderen Formen innerhalb der Fabriken gehören dazu auch die Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse, der selbstgewählte Wechsel zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit, Übergang in die Scheinselbständigkeit usw., wodurch neue »Produktivitätspotentiale« entstehen. Die Notwendigkeit, auf die damit entstehende soziale Unsicherheit (die neue »Proletarität«) staatlicherseits zu reagieren, liegt darin, daß die Ablehnung der Arbeit - auf die sich die revolutionären Kräfte der 70er Jahre ganz zu Recht als die zentrale Dynamik eines revolutionären Prozesses beziehen konnten und mußten - im Verlauf der Krise in ein positives und erneuerndes Moment für die Kapitalakkumulation umgeschlagen ist.

[Wodurch die allgemeine historische Tendenz des Klassenkampfs, sich gegen die Arbeit als solche zu richten, nicht aufgehoben, sondern lediglich zugunsten einer Begrenzung der Kritik auf eine bestimmte Form von Arbeit zeitlich aufgeschoben wird! D.h. in der Ablehnung der bisherigen Arbeit und der Suche nach etwas anderem sind nach wie vor Anknüpfungspunkte für eine radikale Politik des Kampfs gegen die Arbeit, auch wenn sich viele ArbeiterInnen und frühere Militante angesichts der kollektiven Schwäche mit dem Linsengericht einer etwas »attraktiveren« Arbeit zufrieden geben.]

Das bisherige System sozialstaatlicher Sicherung blockiert aber die Abschöpfung solcher »Produktivitätspotentiale«, weil die meisten der neuen Arbeitsformen mit sozialer Unsicherheit verbunden sind und damit neue Konflikte auszubrechen drohen.

Zu 3. Die Vorschläge zu einem Mindesteinkommen, Existenz- oder Bürgergeld werden von allen ihren Verfechtern als Antworten auf dieses Problem betrachtet. Ein flexibles und individuell gestaltbares Arbeitsleben soll sozial abgesichert werden. Der Vorschlag zu einem Mindesteinkommen steht im Zusammenhang mit einer ganzen Reihe von Veränderungen, mit denen der Staat bereits versucht, auf die neuen Verhaltensweisen zu reagieren. 1985 wurden z.B. Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub mit Arbeitsplatzgarantie eingeführt. Im Beschäftigungsförderungsgesetz von 1985 wird der Ausweitung prekärer Arbeitsverhältnisse ein rechtlicher Rahmen gegeben: Bezüglich der Befristungen eine eindeutige rechtliche Verschlechterung, allerdings nur eine Festschreibung der vorhandenen Praxis; bei neuen Arbeitsformen wir Arbeit auf Abruf werden erstmals überhaupt rechtliche Regeln aufgestellt. Durch die neue Rechtsprechung im Rahmen der EG wurde den teilzeitarbeitenden Frauen das Recht auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall zugesprochen. Usw.. Die meisten dieser Änderungen bewegen sich im Rahmen des bisherigen Systems der sozialen Sicherung über Arbeitsrecht und Sozialversicherung (Ausnahme ist z.B. das Erziehungsgeld).

Der Vorschlag des Mindesteinkommen zielt aber (auch dort, wo er taktisch als Ergänzung zur Sozialversicherung formuliert wird) auf eine radikale Änderung und Abkopplung der sozialen Sicherung vom Klassenkonflikt. Als Vermittlung des Klassenkonflikts blieb die Sozialversicherung dadurch sichtbar und wirksam, daß in ihr dieser Konflikt abgebildet und harmonisch ausgeglichen wurde: Pflichtcharakter für LohnarbeiterInnen, Aufsplittung der Beiträge zwischen beiden Seiten, drittelparitätische Besetzung der Gremien durch Staat, Kapital und Arbeiterseite (Gewerkschaften) usw..

Beim Existenzgeld wird die soziale Sicherheit durch den Staat organisiert, der einzelne ist nicht als ArbeiterIn Klientel, sondern als BürgerIn. Theoretisch wird bei den Propagandisten dieses Modell - sowohl bei den Liberalen wie bei den Arbeitsloseninitiativen und Grünen - die Nichtexistenz oder zumindestens die politische Unwirksamkeit des Klassenkonfliktes unterstellt. In der liberalen Variante ergibt sich daraus die Hoffnung, den ganzen bürokratischen Apparat (der aus dem Vermittlungscharakter der Sozialversicherung resultiert) radikal zusammenzustreichen und das Thema soziale Sicherheit zu einer Veranstaltung des Finanzamtes zu machen. Die Arbeiterklasse erscheint schwach und zerbröselt genug, um endlich auf sie als politischen Faktor keine Rücksicht mehr nehmen zu müssen. Bei den Arbeitsloseninitiativen und Grünen entsteht aufgrund des gesellschaftlich verblaßten Klassenkonflikts (bzw. aus Enttäuschung über die Gewerkschaften, die fälschlicherweise für das Subjekt dieses Konflikts gehalten wurden) die Illusion, arme, arbeitslose und flexiblere Arbeit wünschende BürgerInnen ließen sich zu einer politischen Kraft zusammenfassen, die dem Staat das Mindesteinkommen abringt. Während die liberale Variante mit dem Mindesteinkommen ganz offen eine neue Integration in die »Arbeitsgesellschaft«, also die Aufrechterhaltung und Absicherung des Arbeitszwangs propagiert, schließt die linke Kampagne für ein Existenzgeld im Stillen ihren Frieden mit der Arbeitsgesellschaft und erkennt den Staat als Problemlöser an. Die Finanzierung des Existenzgeldes aus den Steuern auf Lohn und Mehrwert/Profit ist unterstellt - am Fortbestand der Arbeitsgesellschaft darf dann schon aus Kostengründen nicht gerüttelt werden. Es soll sich nur jede und jeder etwas freier aussuchen dürfen, wann, wo und wieviel gearbeitet werden muß. Auch die von linker Seite angepeilte Höhe - 1600 Mark oder 1200 Mark plus Miete usw. - ist angesichts der heutigen Einkommensverhältnisse sehr bescheiden. Es ist nicht mehr als grad mal die Existenz. Für jede weitere »Teilnahme am gesellschaftlichen Reichtum« bleibt logischerweise wieder nur eins: Arbeiten! Hatten wir nicht mal die ganze Bäckerei statt einem Stückchen Kuchen gewollt?

[Um hier noch mal ein Mißverständnis auszuräumen, das in der Diskussion auftauchte: die Kritik richtet sich nicht dagegen, daß wir in allen möglichen Konflikten von Unternehmern oder vom Staat Geld verlangen, sondern dagegen, daß hier »konstruktive« Vorschläge zur Gestaltung der staatlichen Sozialpolitik gemacht werden. Wenn wir in aktuellen Konflikten notgedrungen Forderungen aufstellen oder mittransportieren - eine Schwäche ist dies, weil wir uns mit Forderungen immer schon als verhandlungsbereit zu erkennen geben! -, so geht es uns dabei nicht um die Durchsetzung bestimmter sozialpolitischer Regelungen oder Konzepte, sondern immer um einen ganz konkreten politischen Konflikt, in dem sich eine Bewegung mobilisieren kann. Und dann geht es uns um diese Bewegung, nicht um die Forderung!]

Bisher ist aber fraglich, ob der zentrale Klassenkonflikt tatsächlich soweit ausgehöhlt und unwirksam geworden ist, daß sich staatliche Sozialpolitik auf das im Mindesteinkommen unterstellte klassenunspezifische Bürger-Staat-Verhältnis beziehen kann. Konkrete Entwicklungen wie die Pflegeversicherung und Diskussionen um die Ausweitung der Sozialversicherung in anderen Ländern scheinen dem zu widersprechen. Auf der einen Seite paßt das Modell des Bürgergeldes bzw. der negativen Einkommenssteuer sehr gut zu der Ausweitung von selbständiger Arbeit. Andererseits laufen im Rahmen der EG Diskussionen und Untersuchungen zu der Frage, wie sich diese neue »proletarische« Selbständigkeit in die bisherigen Sozialversicherungssysteme einbeziehen ließe. Noch hat es den Anschein, als ob mit jedem Konjunktureinbruch die Diskussion um das Mindesteinkommen aufflammt, um dann wieder in der Versenkung zu verschwinden.

Zu 4. In der Arbeiterbewegung und bei einem Teil der Linken ist es zur selbstverständlichen Gewohnheit geworden, in der Krise an den Staat zu appellieren, die soziale Sicherheit zu garantieren. Durch die Abhängigkeit vieler politischer Projekte von Staatsgeldern, den Gebrauch von ABM und Arbeitslosengeld für die politische Arbeit hat sich diese Tendenz noch verstärkt. Durch solche Forderungen und Mobilisierungen wird die Illusion in den Staat als klassenneutrale Instanz verstärkt und der Aufbau eines autonomen revolutionären Projekts verhindert. In der Wildcat 61 hatten wir am Schluß des Teils zu Italien einen Beitrag aus der dortigen Debatte abgedruckt, der sich gegen das »unhinterfragte Dogma der Linken ..., den Staat als besondere und ausschließliche Form der 'Gesellschaftlichkeit' zu setzen« wendet (Marco Revelli, Der Sozialstaat in den Brennesseln). Auch der Kampfzyklus der 60er und 70er Jahre sei daran gescheitert, den Versuch zur Entwicklung einer autonomen Gesellschaftlichkeit nicht durchgehalten zu haben, sondern mit der Krise den Druck der kollektiven Forderungen zunehmend wieder an den Staat zurückgegeben zu haben. Heute müssen wir uns darum bemühen, daß diese Illusion des sozialen Staates, also des Staates als dem Ort von Gesellschaftlichkeit, durchbrochen und in den Kämpfen die Autonomie des Gesellschaftlichen gegen Kapital und Staat entwickelt wird. Auf der einen Seite stehen die Zeichen dafür schlecht. Angesichts des Ausspielens rassistischer und ethnischer Konflikte hier und überall wächst auch in der Linken die Akzeptanz, in den Ruf nach dem starken Staat hier und überall einzustimmen: »Mehr Bullen nach Magdeburg, mehr Nato in Bosnien oder Ruanda«. Auf der anderen Seite ist das »Politische« aber in einem bisher unbekannten Ausmaß diskreditiert, der Glaube an den Staat als gesellschaftlichen Problemlöser wird brüchig. In Teilen der Gesellschaft scheint dies den Glauben an die »unsichtbare Hand« des Marktes als Problemlöser wieder zu stärken, aber auch bei den Liberalen will keine Hoffnungsstimmung aufkommen, weil die Brutalität dieser Sorte von Problemlösung unübersehbar ist. Gibt es in diesem Dilemma eine Lücke für revolutionäre Vorschläge? Wir sollten uns von unseren Kindern später nicht fragen lassen, warum wir es nicht wenigstens ausprobiert haben!

Nachbemerkung:

Unsere immer noch sehr thesenförmigen Überlegungen zum Sozialstaat haben wir bisher im wesentlichen in zwei Artikeln dargestellt.

So wie der Artikel von 1985 wurde auch der letzte Artikel durch eine Diskussion um die Krise des Sozialstaats, reale massiver Kürzungen von Leistungen und den Versuch von Teilen der Linken, den bestehenden Sozialstaat zu verteidigen oder sich mit eigenen Vorschlägen an seinem Umbau zu beteiligen, ausgelöst. Unter den Angriffen auf die bisher gewährten sozialen Sicherungen, die sich auch für die individuelle Flucht aus der Arbeit nutzen ließen, vergessen Teile der radikalen Linken ihre grundsätzliche Staatskritik, sehen ihre Aufgabe darin, sich mit Forderungen oder Lösungsvorschlägen an den Staat zu wenden und verklären dabei nicht selten den bisherigen Sozialstaat als eine »Errungenschaft der Arbeiterbewegung«. Mit unseren Artikeln wollten wir dem argumentativ etwas entgegensetzen und auf eine andere, nicht-reformistische praktische Initiative hinarbeiten. Dazu galt es, auch theoretisch den Mythos der »Errungenschaft« zu zerstören und die »soziale Gerechtigkeit« als Arbeitszwang zu demaskieren. Im Handgemenge der politischen Auseinandersetzungen haben wir es aber bisher nicht geschafft, unsere politischen Thesen zum Sozialstaat in Form einer genaueren historischen Darstellung darzulegen.

Auf einene weiteren unausgeführten Punkt wurde in der Diskussion hingewiesen. In den beiden Artikeln wird nur sehr abstrakt auf den Zusammenhang zwischen metropolitanem Sozialstaat und den Ausbeutungsverhältnissen in der Peripherie eingegangen wenn auf die Geburt die Sozialstaats im imperialistischen Krieg hingewiesen wird. (Hinweis auf Lapinski: »Wir vergessen allzu leicht, daß vieles, was wir auf diesem Gebiete (des Sozialstaats) gegenwärtig vorfinden und was uns als etwas neues erscheint, seinen tatsächlichen, unmittelbaren Ursprung im imperialistischen Kriege hat.« Lapinski, Sozialstaat, Etappen und Tendenzen seiner Entwicklung, in: Unter dem Banner des Marxismus, 1928, Nr. 4). Wir hatten uns dabei aber nicht genauer mit der in der linken Diskussion ständig auftauchenden Behauptung auseinandergesetzt, daß ein Wert- und Reichtumstransfers von der Peripherie in die Metropole existiert, der den Sozialstaat erst möglich mache, die metropolitanen ArbeiterInnen also an der »Ausbeutung der Dritten Welt« beteilige. In einer Arbeitsgruppe in Biedenkopf wurde verabredet, zu dem Thema nochmals Papiere auszutauschen und eine gründlicher Darstellung zu erarbeiten.

Debatte und Untersuchung gehen also weiter!

F.


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